vom 9. November 1995 (von Deutschland bisher nicht unterzeichnet; noch nicht in Kraft getreten.)
Präambel
Die Mitgliedstaaten des Europarats, die dieses Protokoll zu der am 18. Oktober 1961 in Turin zur Unterzeichnung aufgelegten Europäischen Sozialcharta (im folgenden als „Charta“ bezeichnet) unterzeichnen,
entschlossen, neue Maßnahmen zu treffen, die geeignet sind, die Verwirklichung der durch die Charta garantierten sozialen Rechte zu verbessern;
in der Erwägung, daß dieses Ziel insbesondere durch die Einrichtung eines Kollektivbeschwerdeverfahrens erreicht werden könnte, das unter anderem die Mitwirkung der Sozialpartner sowie nichtstaatlicher Organisationen verstärken würde,
sind wie folgt übereingekommen:
Artikel 1
Die Vertragsparteien dieses Protokolls erkennen den folgenden Organisationen das Recht zu, Beschwerden vorzubringen, in denen eine nicht zufriedenstellende Anwendung der Charta geltend gemacht wird:
- den in Artikel 27 Absatz 2 der Charta bezeichneten internationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen;
- den anderen internationalen nichtstaatlichen Organisationen, die beratenden Status beim Europarat haben und vom Regierungsausschuß in eine zu diesem Zweck angelegte Liste eingetragen sind;
- den repräsentativen nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen unter der Hoheitsgewalt der Vertragspartei, gegen die sich die Beschwerde richtet.
Artikel 2
- Jeder Vertragsstaat kann ferner zu dem Zeitpunkt, zu dem er nach Artikel 13 seine Zustimmung ausdrückt, durch dieses Protokoll gebunden zu sein, oder zu einem späteren Zeitpunkt erklären, daß er anderen repräsentativen nationalen nichtstaatlichen Organisationen unter seiner Hoheitsgewalt, die in den von dieser Charta geregelten Angelegenheiten besonders fachkundig sind, das Recht zuerkennt, Beschwerden gegen ihn einzureichen.
- Solche Erklärungen können befristet abgegeben werden.
- Die Erklärungen werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt; dieser übermittelt den Vertragsparteien Abschriften davon und veröffentlicht sie.
Artikel 3
Die in Artikel 1 Buchstabe b beziehungsweise in Artikel 2 genannten internationalen nichtstaatlichen und nationalen nichtstaatlichen Organisationen können nach dem in jenen Artikeln vorgesehenen Verfahren Beschwerden nur in bezug auf die Angelegenheiten vorbringen, für die sie als besonders fachkundig anerkannt worden sind.
Artikel 4
Die Beschwerde ist schriftlich einzureichen; sie hat sich auf eine Bestimmung der Charta, die von der betroffenen Vertragspartei angenommen wurde, zu beziehen und Angaben darüber zu enthalten, in welcher Hinsicht letztere die zufriedenstellende Anwendung dieser Bestimmung nicht sichergestellt hat.
Artikel 5
Jede Beschwerde ist an den Generalsekretär zu richten, der deren Eingang bestätigt, sie der betreffenden Vertragspartei zur Kenntnis bringt und sie unverzüglich dem Ausschuß unabhängiger Sachverständiger übermittelt.
Artikel 6
Der Ausschuß unabhängiger Sachverständiger kann die betreffende Vertragspartei und die Organisation, welche die Beschwerde eingereicht hat, auffordern, ihm innerhalb einer von ihm gesetzten Frist schriftlich Auskünfte und Stellungnahmen hinsichtlich der Zulässigkeit der Beschwerde vorzulegen.
Artikel 7
- Erklärt der Ausschuß unabhängiger Sachverständiger eine Beschwerde für zulässig, so teilt er dies den Vertragsparteien der Charta über den Generalsekretär mit. Er fordert die betreffende Vertragspartei und die Organisation, welche die Beschwerde eingereicht hat, auf, ihm innerhalb einer von ihm gesetzten Frist schriftlich alle sachdienlichen Erläuterungen oder Auskünfte vorzulegen, sowie die anderen Vertragsparteien dieses Protokolls, innerhalb derselben Frist die Stellungnahmen abzugeben, die diese zu übermitteln wünschen.
- Ist die Beschwerde von einer nationalen Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisation oder von einer anderen nationalen oder internationalen nichtstaatlichen Organisation eingereicht worden, so teilt der Ausschuß unabhängiger Sachverständiger dies den in Artikel 27 Absatz 2 der Charta bezeichneten internationalen Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisationen über den Generalsekretär mit und lädt sie ein, innerhalb einer von ihm gesetzten Frist Stellung zu nehmen.
- Aufgrund der nach den Absätzen 1 und 2 vorgelegten Erläuterungen, Auskünfte und Stellungnahmen können die betreffende Vertragspartei und die Organisation, welche die Beschwerde eingereicht hat, schriftlich zusätzliche Auskünfte oder Stellungnahmen innerhalb einer vom Ausschuß unabhängiger Experten gesetzten Frist vorlegen.
- Im Verlauf der Prüfung der Beschwerde kann der Ausschuß unabhängiger Experten eine Anhörung der Vertreter der Parteien vornehmen.
Artikel 8
- Der Ausschuß unabhängiger Sachverständiger verfaßt einen Bericht, in dem er die von ihm zur Prüfung der Beschwerde unternommenen Schritte beschreibt und seine Schlußfolgerungen darüber darlegt, ob die betreffende Vertragspartei die Anwendung der Bestimmung der Charta, auf die sich die Beschwerde bezieht, in zufriedenstellender Weise sichergestellt hat oder nicht.
- Der Bericht wird dem Ministerkomitee übermittelt. Er wird ferner der Organisation, welche die Beschwerde eingereicht hat, und den Vertragsparteien der Charta übermittelt, ohne daß diesen seine Veröffentlichung gestattet ist.
Er wird der Parlamentarischen Versammlung übermittelt und gleichzeitig mit der in Artikel 9 vorgesehenen Entschließung oder spätestens vier Monate nach seiner übermittlung an das Ministerkomitee veröffentlicht.
Artikel 9
- Aufgrund des Berichts des Ausschusses unabhängiger Experten nimmt das Ministerkomitee mit Mehrheit der abgebenen Stimmen eine Entschließung an. Stellt der Ausschuß unabhängiger Experten fest, daß die Charta nicht zufriedenstellend angewandt worden ist, so nimmt das Ministerkomitee mit Zweidrittelmehrheit der abgebenen Stimmen eine an die betreffende Vertragspartei gerichtete Empfehlung an. In beiden Fällen sind ausschließlich die Vertragsparteien der Charta stimmberechtigt.
- Auf Ersuchen der betreffenden Vertragspartei kann das Ministerkomitee, falls im Bericht des Ausschusses unabhängiger Experten neue Fragen aufgeworfen werden, mit Zweidrittelmehrheit der Vertragsparteien der Charta beschließen, den Regierungsausschuß zu konsultieren.
Artikel 10
Die betreffende Vertragspartei erteilt im nächsten Bericht, den sie nach Artikel 21 der Charta an den Generalsekretär richtet, Auskunft über die Maßnahmen, die sie zur Umsetzung der Empfehlung des Ministerkomitees getroffen hat.
Artikel 11
Artikel 1 bis 10 dieses Protokolls finden gegenüber den Staaten, die Vertragsparteien des ersten Zusatzprotokolls zur Charta sind, auch auf die Artikel des Teiles II jenes Protokolls Anwendung, soweit diese Artikel angenommen wurden.
Artikel 12
Die Staaten, die Vertragsparteien dieses Protokolls sind, sind der Auffassung, daß der Anhang zur Charta in bezug auf Teil III wie folgt lautet:
„Es besteht Einverständnis darüber, daß die Charta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthält, deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV und in diesem Protokoll vorgesehenen überwachung unterliegt.“
Artikel 13
- Dieses Protokoll liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats, die Unterzeichner der Charta sind, zur Unterzeichnung auf; sie können ihre Zustimmung, gebunden zu sein, ausdrücken:
- indem sie es ohne Vorbehalt der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung unterzeichnen oder
- indem sie es vorbehaltlich der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung unterzeichnen und später ratifizieren, annehmen oder genehmigen.
- Ein Mitgliedstaat des Europarats kann seine Zustimmung, an dieses Protokoll gebunden zu sein, nicht zum Ausdruck bringen, ohne die Charta vorher ratifiziert zu haben oder gleichzeitig zu ratifizieren.
- Die Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.
Artikel 14
- Dieses Protokoll tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von einem Monat nach dem Tag folgt, an dem fünf Mitgliedstaaten des Europarats nach Artikel 13 ihre Zustimmung ausgedrückt haben, durch das Protokoll gebunden zu sein.
- Für jeden Mitgliedstaat, der später seine Zustimmung ausdrückt, durch das Protokoll gebunden zu sein, tritt es am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von einem Monat nach Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde folgt.
Artikel 15
- Jede Vertragspartei kann dieses Protokoll jederzeit durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation kündigen.
- Die Kündigung wird am ersten Tag des Monats wirksam, der auf einen Zeitabschnitt von zwölf Monaten nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär folgt.
Artikel 16
Der Generalsekretär des Europarats notifiziert allen Mitgliedstaaten des Europarats:
- jede Unterzeichnung;
- jede Hinterlegung einer Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde;
- den Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls nach Artikel 14;
- jede andere Handlung, Notifikation oder Mitteilung im Zusammenhang mit diesem Protokoll.
Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Protokoll unterschrieben.
Geschehen zu Straßburg am 9. November 1995 in englischer und französischer Sprache, wobei beide Wortlaute gleichermaßen authentisch sind, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt allen Mitgliedstaaten des Europarats beglaubigte Abschriften.